Wie der Nessie-Mythos in die Welt kam (2024)

von Stephan Draf

4 Min.

Ein Ungeheuer hat mal wieder Konjunktur: Mit der größten Suchaktion seit 50 Jahren wollen Nessie-Fans dem Mythos des Loch Ness aufs Neue nachspüren. Einen hätte dieser Rummel gewiss gefreut: Lokalreporter Alex Campbell, der bis zu seinem Tod an seiner Monster-Story festhielt

Der Nachmittag jenes Märztages 1933 war sonnig, schottisch kühl und so ruhig, wie es an den Ufern von Loch Ness üblich war. Aldie Mackay und ihr Mann John fuhren mit dem Auto von Inverness nach Drumnadrochit, wo sie ein Hotel führten.

Sie befanden sich auf der A82 in der Nähe des Sieben-Meilen-Steins kurz hinter Lochend am schmalen, nördlichen Ende von Loch Ness. Aldie blickte auf das stille Wasser hinaus, als sie etwas bemerkte, das sie für ein riesiges Wesen "mit dem Körper eines Wals" hielt, das sich im Wasser wälzte. Sie rief ihrem Mann zu, er solle das Auto anhalten, doch als er dies getan hatte, konnte er nur noch Wellen sehen.

Wie der Nessie-Mythos in die Welt kam (1)

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Im Hotel angekommen, berichteten die Mackays Gästen und Angestellten von ihrer erstaunlichen und unstrittig aufregenden Beobachtung. Tage später hatte sich die Geschichte auch zu Alex Campbell herumgesprochen. Campbell war als Seewart dafür verantwortlich, den Lachsbestand im Loch Ness durch das regelmäßige Einsetzen von Jungfischen auf jenem Niveau zu halten, das die Anwohner gewohnt waren.

Aber wenn der See ruhig war und die Fische gesund, schrieb er auch als freier Lokalreporter für den "Inverness Courier". Und weil die Nachrichtenlage in der Gegend aus Journalistensicht beklagenswert ruhig war, erschien am 2. Mai ein Bericht im "Courier", der Campbells Leben von da aufregender machen sollte.

"(Von unserem Korrespondenten) Am letzten Freitag fuhr ein bekannter Geschäftsmann, der bei Inverness wohnt, mit seiner Frau (die einen Universitätsabschluss hat) mit dem Auto am Nordufer des Sees entlang, als beide verblüfft unweit von Abriachan eine gewaltige Aufwallung im Loch sahen. Dieser war nur kurz zuvor so still wie der sprichwörtliche Mühlteich gewesen. Die Frau sah die Turbulenz als erste, und ihr plötzlicher Schrei, er solle anhalten, lenkte die Aufmerksamkeit ihres Gatten auf das Wasser. Dort zeigte sich das Tier, es rollte und platschte eine ganze Minute lang, und sein Körper glich dem eines Wals.

Das Wasser sprudelte an ihm herunter wie ein Wasserfall, das Wasser kochte wie ein Kessel. Bald darauf verschwand das Tier in einer kochenden Masse aus Gischt. Beide Zuschauer gaben an, das Ganze sei etwas unheimlich gewesen, denn sie waren sich sicher, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Seebewohner gehandelt hatte. Nicht nur aufgrund der gewaltigen Größe, das Tier sandte auch, als es endlich untertauchte, gewaltige Wellen aus, die denen eines Dampfers glichen. Die Betrachter warteten mindestens eine halbe Stunde in der Hoffnung, das Monster (wenn es ein solches gewesen sein sollte) könnte erneut auftauchen, aber sie sahen es nicht mehr."

Und so kam das Wort vom "Monster" in Loch Ness in die Welt. Zwar tauchten im "Inverness Courier" schon Tage später Leserbriefe von See-Anrainern auf, die übereinstimmend der Ansicht waren, das Untier sei eher ein großer Otter gewesen oder ein Riesenaal oder eben springende Lachse. Ein Untier gebe es nicht, sonst hätte man es in der Vergangenheit ja gesehen. Aber die Geschichte war nun mal da, und der Reporter Campbell tat nichts, um sie aus der Welt zu schaffen.

Ein Ungeheuer oder doch ein Badeunfall?

Im Gegenteil: Er verwies auf uralte Geschichten, nach denen schon immer ein Seeungeheuer im Loch gehaust habe. Schon im sechsten Jahrhundert habe ein irischer Mönch von einem "water beast" im See berichtet, er, Campbell, habe sich da nichts ausgedacht. In späteren Jahrzehnten haben zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass es Geschichten von Seeungeheuern in jener Zeit zuhauf gab, weltweit und auch zu sehr vielen schottischen Seen.

Den Bewohnern und Bewohnerinnen der Dörfer rund um die Gewässer dienten die Monster wohl vor allem als gute Erklärung für das nicht geklärte Verschwinden von Menschen im See. Wahrscheinlich waren die Beklagenswerten schlicht ertrunken, aber die Saga um ein hungriges Riesentier im See kam schon damals besser an als die langweilige Version vom Badeunfall.

Alex Campbell sah das Monster schließlich auch selbst noch, 1938, ein paar Jahre nach dem Artikel im "Courier". Auf youtube findet sich ein kleiner Film-Schnipsel aus den 1970er Jahren, in dem er von jenem Tag berichtet, als das Monster vor seinen Augen auftauchte.

Es glich nun nicht mehr einem Wal, sondern entsprach eher seinem modernen Bild, in dem Nessie einem Brontosaurus ähnelt: Kleiner Kopf, langer Hals, Riesenkörper. Dreimal, so berichtet Campbell, habe er seine Augen zu- und wieder aufgemacht, um sich sicher zu sein – aber, "gütiger Gott", es sei wirklich da gewesen. Nervös habe das Tier gewirkt und immer wieder den Kopf gedreht. Und der scharfäugige Campbell hatte auch gleich die Erklärung erspäht: Zwei Fischtrawler tuckerten in Richtung Nessie über den See. "Und als sie in seiner Nähe waren: Wusch, weg war es. Aber der Strudel auf dem Wasser – er war von enormer Größe".

Wie der Nessie-Mythos in die Welt kam (2)

Auch für das plötzlich veränderte Aussehen des Untiers hat die Forschung später eine Erklärung angeboten: Nur Monate nach Campbells erstem Artikel kam ein Film aus Amerika mit großem Getöse auch in britische Kinos: "King Kong". Und in der legendären Film-Saga über den großen, unglücklichen Affen gibt es in der Tat eine Szene, in der ein Seemonster seinen Kopf über den Wasserspiegel eines Sees hebt – es ähnelt Nessie sehr.

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Ein schnöder Hollywoodstreifen als die Grundlage des Nessie-Mythos? Alex Campbell hätte sich wohl wutschnaubend abgewendet. Bis zu einem Tod 1983 war ein gern gefragter Gesprächspartner für Journalisten, Filmemacher, Sachbuchschreiberinnen – und ließ an der Existenz des Monsters nie einen Zweifel aufkommen. 1970 meldete er sich auch noch einmal öffentlich zu Wort, als ein britischer Biologe darauf verwies, dass die zunehmende Verschmutzung des Sees schon ganz normalen Fischen die Nahrung entziehe und deshalb für ein ausgewachsenes Seemonster ganz sicher nicht mehr genügend Futter vorhanden sei.

"So ein Unsinn", schimpfte Campbell einem Reporter der New York Times in den Notizblock, "das Wasser des Sees ist vollkommen in Ordnung. Ich trinke es seit Jahrzehnten."

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